Über das Schachspiel

(von Werner Wittmann)

 

„Ich habe ein leises Gefühl des Bedauerns für jeden, der das Schachspiel nicht kennt, ungefähr so, wie ich jeden bedauere, der die Liebe nicht kennen gelernt hat. Das Schach hat, wie die Liebe, wie die Musik, die Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen.“ So schrieb einmal der bedeutende Schach-Pädagoge Dr. Tarrasch und viele, sehr viele Menschen haben die Wahrheit seiner Worte immer wieder erfahren.

 

Das Schachspiel wird und bleibt unser guter Freund, wie das Buch, die Musik, die Natur, wenn wir die Begegnung mit ihm nur wirklich wollen.

Haben wir aber gegen das Spiel im Allgemeinen nicht eine mehr oder minder bewusste Abneigung, weil heute zuerst und oft ausschließlich die Leistung, der sichtbare Erfolg und somit die harte Arbeit als Leitbilder vor uns gestellt werden? Wo bleibt uns die Zeit für das erholsame Spiel?

Wohl dem deshalb, der gerade heute dem Spiel in seinem Leben noch den gebührenden Rang verschafft und es pflegt; der arbeitet, auch um spielen und der spielt, um wieder arbeiten zu können; der seinen Alltag schmückt und bereichert mit unbeschwertem, frohem Spiel, auch – und nicht zuletzt – mit dem Königlichen Spiel!

Jahrhunderte schon beglückt und verzaubert das Schach seine Jünger und lockt den einmal Angerührten immer tiefer in das Reich der Göttin Caissa.

 

Fasziniert und fesselt es uns vielleicht deshalb so sehr, weil wir seine Unerschöpflichkeit und oft seine Entsprechungen zu unserem Leben staunend entdecken, weil viele seiner Prinzipien auch in unserem Lebenskampf volle Gültigkeit haben? Wer würde zum Beispiel etwas Positives erreichen, ohne eine sinnvolle systematische Entwicklung seiner Figuren, seiner Kräfte, also o h n e Plan? Sein Spiel, sein Vorhaben, wäre verloren, gescheitert, kaum dass es recht begonnen hätte! Wir kennen im Grunde diese unerbittlichen Gesetzmäßigkeiten des Lebens, vergessen sie aber leider nur allzu oft. Das Schachspiel erinnert uns jedoch immer wieder an sie, wenn wir nur aufmerksamen Sinnes sind. So kann es uns helfen, das Leben besser zu meistern, indem es vor allem Geduld und logische Zielstrebigkeit lehrt und zudem ermutigt, auch in hoffnungslos erscheinender Situation noch einen Ausweg zu suchen.

Aber auch das Musische und das Beglückend-Erholsame werden uns im Schach geschenkt. In zweckfreiem Tun entspannen wir uns, vergessen Raum und Zeit und das herrliche Spiel mit seinen unzähligen Möglichkeiten und Überraschungen zieht uns ganz in seinen Bann. „Ein Dom von Phantasie tut sich auf über den 64 Feldern des Schachbretts“, wie es ein Wissender, ein Ergriffener einmal wunderbar zum Ausdruck brachte. Und die Figuren selbst sind voller Kraft und Symbolik:

Der K ö n i g, Herr und Gebieter, Brennpunkt und Ziel des Spiels, leitet die Schlacht aus der Sicherheit seiner Burg. Oft aber, wenn schon zu viele seiner Untertanen auf dem Felde geblieben sind, wenn es zum Kampf von Mann zu Mann kommt, zeigt er seine wahre Größe, seinen Mut: Er selbst greift dann ein und reißt nur allzu oft seine Getreuen mit zum ersehnten Sieg.

Die D a m e, zugleich ein Turm-Läufer, ein Läufer-Turm, dient dem König, ihrem Gemahl, als Dame von Welt. Sie ist einflussreich und stark, sehr stark sogar, durch Charme, Klugheit und Diplomatie; ein unentbehrlicher Helfer ihres Herrn – wie so oft auch auf dem Schachbrett des Lebens.

Die T ü r m e, Eckpfeiler in der Schlacht, unschätzbar in ihrer Verteidigungskraft und –Kunst, aber von zerstörender Wucht, wenn ihnen, erzwungen oder sorglos-unbedacht, der Weg zum gegnerischen Lager geebnet wird. Ihre dann ausbrechenden Kräfte entscheiden oft und schnell die Partie, den Kampf, zu Gunsten ihres Heeres.

Die L ä u f e r, wendige, schnelle Kuriere des Königs, durcheilen in langen oder kurzen Diagonalen das Brett, die Kampfstatt, bringen Entlastung, helfend, rettend, opfern sich oft, um den nachrückenden Truppen blitzartig den Einbruch ins andere Lager zu ermöglichen und nicht selten überwinden sie allein, mit letzter Kraft, den gegnerischen König im Getümmel.

Die S p r i n g e r, die Pferde, rasant und gefährlich, keinen Angriff scheuend, die Kavallerie des Spiels. Mit wenigen Sprüngen sind sie – Drohung und Unruhe schaffend – mitten im Kampfgeschehen. Sie beherrschen viele Felder, sind aber auch gegnerischen Attacken oft blitzschnell wieder entronnen.

Die B a u e r n, das Fußvolk, die Soldaten, sind namenlos und als einzelne nicht sehr stark. Doch kein Souverän könnte auf sie verzichten. Als Bollwerk und Schutz vor Angriffen sind sie in ihrer gegenseitigen Verbundenheit und Opferbereitschaft jedoch nur schwer zu überwinden. Gelingt einmal einem von ihnen der Einbruch ins gegnerische Lager, so ist ihm hoher Lohn, das Offizierspatent, gewiss; noch im Kampfgeschehen, nicht erst später, wird es ihm verliehen. Nur zur Unzeit dürfen sie nicht ziehen, marschieren; ihr Einsatz muss gut gelernt sein, sollen nicht alle Truppen in erhebliche Schwierigkeiten kommen.

So erfüllen sie still und unauffällig ihre Pflicht, ihr hartes Tagewerk; kleine Rädchen im großen Weltgetriebe. Kaum jemand nimmt Notiz von ihnen, von den „kleinen Leuten“, obgleich auch ihr dauerhaftes Wohlergehen immer ein wichtiges Ziel aller Kämpfe und Mühen sein sollte!

S o  l a s s t  u n s  d e n n  w i e d e r  s p i e l e n  und gerade in sorgenvollen Stunden eintreten in „das Kloster des Spiels, in die Welt der Phantasie, wo der Lärm des Tages draußen bleibt“, wie es Dr. Lasker einmal feinsinnig formulierte. Ja, zum „Kloster des Spiels“ sollten wir in einer hektischen Zeit – um unserer selbst willen – wieder hinfinden. Wer Ohren hat zu hören, der höre:

 

Lasst uns wieder spielen, auch und vor allem das freudenbringende  S c h a c h !

 

 

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