Warum spielen wir Schach?
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Dr. Ernst Bachl (geb. 16. Juli
1895 - gest. 9. Februar 1982) Dr. Bachl war schon zu Lebzeiten die Wormser Schachlegende schlechthin. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er bereits Propagandawart des Wormser Schachvereins und kämpfte bis ins hohe Alter hinein leidenschaftlich für die Verbreitung seines so geliebten Königlichen Spiels. Über 20 Jahre hinweg betreute er die Schachecke der Wormser Zeitung und gewährte den Lesern Einblicke in sein schier unerschöpfliches Wissen um das Schachspiel. Die Schachbibliothek, die der WSV-Ehrenvorsitzende nach seinem Tode der Stadtbücherei vermachte, umfasste mehr als 700 Werke und gilt als ein unermesslicher Schatz der Schachliteratur. |
Fragt die Schachspieler, warum sie Schach spielen, und nur die wenigsten werden dies sofort vollkommen begründen können. Das ist durchaus nicht verwunderlich. Ein dichter Schleier des Geheimnisses verhüllt ja nicht nur seinen Ursprung, sondern auch bis auf den heutigen Tag noch sein wahres Wesen. Bis jetzt ist es jedenfalls noch keinem Philosophen gelungen, auszusagen, was das Schach eigentlich ist. Es ist weder allein Spiel noch Sport, Kunst, Wissenschaft, sondern von all diesen etwas zugleich. Man hat daher von einer „Inselstellung" des Schachspiels gesprochen. Rätselhaft thront es auf dieser Insel in majestätischer Größe, ein König unter den Spielen, ein Einsiedler im Reiche der geistigen Betätigung.
Seinem rätselhaften Wesen entströmt mehr als ein Reiz, und diese Mehrzahl von Lockungen sind uns - zum mindesten während des Spielens – unbewusst. Wir empfinden beim Spiel nur eine unsagbare Freude, ohne sagen zu können, aus wie viel und welchen Quellen sie gespeist wird. Aber wir pflegen ja auch sonst im Leben keine tiefsinnigen Betrachtungen anzustellen, woher die Freude, dieser "schöne Götterfunke" kommt. In unserem Fall geht sie gar von einem Geheimnis aus, und wie wir sein Wesen nicht zergliedern können, so sind uns auch die diesem Wesen entsprechenden Reize zunächst nicht einzeln gegenwärtig. Auf die Frage "Warum Schach?" wird also die einfachste und doch alles enthaltende Antwort sein: Weil es uns eben Freude macht!
In dieser Aussage ist eine echte Sinndeutung eingeschlossen, während Antworten wie etwa "weil ich gern einen Gegner niederkämpfe" nur den Zweck andeuten können. Es soll aber hier nicht aufgedeckt werden, wozu wir Schach spielen, sondern woher es kommt, dass wir Schach spielen. Nicht nach dem Ziel ist gefragt, sondern nach dem Start. Und da wird sofort klar: Wir starten gar nicht aus eigenem Willen, sondern wir werden geheimnisvoll in die Startbahn von einer Macht hineingezogen. Irgend etwas Unfassbares hat jeden Schachspieler einmal zuerst angezogen, und je länger er sich mit dem Spiel beschäftigte, desto mehr Rätsel gab es ihm auf. Immer wieder und so lockend, dass ihn dieses Spiel nicht mehr loslässt. Der gering schätzenden Kritik, es sei "nur ein Spiel" würde er entgegnen, es sei mehr als ein Spiel. Übrigens darf auch kein noch so primitives Spiel gering geschätzt werden. In seinem Buch "homo ludens" (Der spielende Mensch) beweist der holländische Kulturhistoriker Huizinga, dass das Spiel am Anfang aller Kultur steht, ja, "es ist älter als Kultur". Die Vorzeitmenschen müssen also wohl schon gespielt haben, und, bevor die Menschen auf die Erde kamen, spielten schon die Tiere. Ein so wichtiger uralter Trieb muss eine ebenso große Bedeutung haben wie die anderen Triebe, die der Fortpflanzung, Selbsterhaltung usw.
Der Spieltrieb ist dem Menschen zu seiner Freude geschenkt. Er schlummert nicht nur im Kinde und Nietzsches Satz: "Im echten Manne ist ein Kind, das will spielen" ist also recht merkwürdig. Auch Frauen spielen, jedes Lebensalter spielt. Wir können dem Trieb nicht ausweichen, wir spielen, weil wir spielen müssen. Und wenn alle Kultur spielerisch begann, dann ist das Spiel der Menschheit von Nutzen gewesen und soll es bleiben. Ja, man kann wohl sagen: Wehe den Menschen, wenn sie nicht mehr spielten! Und insofern stimmt das Wort Nietzsches also, nämlich dahin gedeutet, dass der spielende Mann eben der "echte Mann" ist, der normale, der kulturschaffende Mensch. Andern zur Pflege (cultura) spielt er, aber auch sich zur Pflege. Das Spiel dient der Abrundung seiner Persönlichkeit.
Abrundung, d. h. die Person will schon Vorhandenes aufbauen und Fehlendes erwerben. Bei jedem Spiel wird also einmal eine schon vorhandene Eignung sich betätigen wollen und andererseits bringt jedes Spiel der Seele den Wechsel, nach dem sie sich sehnt, z. B. den Wechsel von nützlicher Arbeit zu vollkommen unnützlicher Tätigkeit, eben zum Spiel. Beim Schach ist die Eignung zum Schach dem "schwersten aller Spiele", dem Individuum eine ganz besondere Förderung der Ich-Schätzung und Ich-Überschätzung, die ein Grundzug der menschlichen Seele ist und ohne die es keinen Wettbewerb und Fortschritt gibt. Dass "ich klüger bin als der andere", dass ich "besser täuschen kann als der andere", dass ich selbst aber "nicht getäuscht werden kann", dass ich "fähig bin", ganz allein eine "gestellte Aufgabe auszuführen", das sind nach W. Junk die vier Lockungen des Schachspiels, die der Ich-Überschätzung förderlich sind. Hierzu kommen die Reize, die ihren Grund in dem Bestreben der Seele haben, aus den Widerwärtigkeiten des Lebens zu entfliehen.
Es flieht der Mensch die ihm feindlich erscheinende Arbeit, wenn er nur Teile des Arbeitsproduktes machen darf. Beim Schachspiel aber schafft er ein ganzes Werk, von Anfang bis Ende, ist Ingenieur und Arbeiter zugleich. Eine vollkommenere Ablenkung, also Wechsel aus dem gewöhnlichen Leben heraus in ein Märchenland, als das Schach, kann man sich nicht denken. Um den Spieler herum ist die ganze Welt einfach versunken. Dabei ist er selbst nur äußerlich von dieser Ruhe ergriffen, in Wirklichkeit ist er auf der Jagd nach den schönsten und gewagtesten Abenteuern. Einern Forscher gleich, dringt er in unbekanntes Gebiet vor, entdeckt er Gesetzmäßigkeiten im Glanz der mannigfaltigsten Kombinationen und wird wie jener von Rückschlägen nie entmutigt. Schach ist wohl auch Wettkampf, aber eben nicht Nur-Wettkampf. Daher kommt es, dass auch eine verlorene Partie, wenn sie nur schön war, noch befriedigen kann. Bei keinem Spiel der Welt würde man auf die Dauer bleiben, wenn man fortdauernd verlöre. Aber der Schachspieler wittert in jeder neuen Partie eine Chance, doch zu gewinnen. Der Sieg ist ihm eine Befriedigung über alle Maßen. Schach ist daher das einzige Spiel der Welt, das es wegen seiner Reize nicht nötig hat, um Geld oder auch nur Spielmarken gespielt zu werden. Schach hat es an sich nicht nötig, als Sport betrieben zu werden.
Bald sanft gleitend, bald stürmisch bewegt entführt der mächtige Strom der Freude seit Urbeginn des Schachspiels Legionen der verschiedensten Menschen, nach und nach aller Erdteile, in ein Wunderland. Seine Quellen werden nie versiegen, er wird weiter fließen, mögen Kulturen um ihn herum kommen, entarten, untergehen.